Weihnachten ist altmodisch, findet Gerlinde. Folgerichtig schafft sie es einfach ab …
Von Charlotte Erpenbeck
Gerlinde und Eberhard waren moderne Leute. Jung, dynamisch, erfolgreich und immer mit der neusten Mode vertraut. Gerlinde hatte das umgebaute alte Schulhaus, in dem sie wohnten, im minimalistischen Bauhaus-Ikea-Design eingerichtet, alle Farben streng nach dem chinesischem Feng-Shui-Prinzip ausgesucht.
So etwas Altmodisches wie traditionelle Weihnachten kam natürlich nicht für sie in Frage. Gerlinde erinnerte alle ihre Bekannten daran, dass es doch so viel Hunger und Elend in der Welt gäbe und es sehr viel sinnvoller sei, das Geld zu spenden. Sie dächte dabei selbstverständlich an eine angemessen hohe, vernünftig verwendete Spende an Unicef oder ein ähnlich seriöses Unternehmen.
Gerlinde erinnerte alle ihre Bekannten daran, dass es doch so viel Hunger und Elend in der Welt gäbe und es sehr viel sinnvoller sei, das Geld zu spenden.
Weihnachtsgeschenke wären einfach ein schrecklich überflüssiger, unmoderner Schnickschnack, sagte Gerlinde, und die Weihnachtsdekoration eine völlig unnütze Geldausgabe. Eberhard stimmte ihr selbstverständlich zu. Sein Beruf als Computer-Programmierer beschäftigte ihn derart, dass er ohnehin Gerlinde alle Kleinigkeiten des Alltags gerne überließ.
Als klitzekleines Zugeständnis an die Weihnachtszeit installierte Gerlinde ein Set aus vier quadratischen Kerzen auf dem gläsernen Wohnzimmertisch, mit einem einzelnen kleinen Tannenzweig davor. Die Kerzen waren lindgrün und passten farblich perfekt zu den beigen Bodenfliesen und dem dunkelgrünen Sofa. Natürlich zündete Gerlinde die Kerzen nicht an, das hätte ja ihre vollkommene Symmetrie zerstört.
Zu Heiligabend wollten sie ausgehen. Chinesisch essen, damit sie von dem üblichen deutschen Weihnachtsmusikgedudel verschont blieben, wie Gerlinde erklärte. Außerdem war der Chinese der Einzige, der Heiligabend geöffnet hatte, aber das sagte Gerlinde natürlich nicht dazu.
So zogen die beiden am Heiligen Abend gegen sechs Uhr los, Gerlinde in ihrem wollweißen Cape mit dem Polarfuchskragen, Eberhard in der saloppen braunen Tweedjacke. Beim Chinesen waren nur zwei weitere Tische besetzt. Gerlinde nahm die vegetarische Reisplatte, Eberhard gönnte sich einen gegrillten Fisch. Zu Gerlindes Entsetzen spielte der Chinese deutsche Weihnachtslieder als Hintergrundmusik.
Sie beendeten das Essen so schnell wie möglich und beschlossen, noch einen Abstecher in ihre Stammkneipe „C’est la vie“ anzuhängen. Aber das „C’est la vie“ war wegen Weihnachten geschlossen. Alle Kneipen waren anscheinend geschlossen. Wohin auch immer sie kamen, sie landeten vor verschlossenen Türen.
Bedrückt gingen die beiden durch den nasskalten Heiligen Abend. In den Fenstern standen Weihnachtslichter, durch viele Scheiben konnten sie Weihnachtsbäume sehen. Immer wieder drangen Fetzen von Weihnachtsliedern an ihre Ohren. Die wenigen Menschen, die noch unterwegs waren, hasteten mit aufgeregter Miene und einem „Frohe Weihnachten“ auf den Lippen an ihnen vorbei, bunt verpackte Geschenke unter dem Arm, auf dem Weg zu lieben Freunden und Verwandten.
Wohin auch immer sie kamen, sie landeten vor verschlossenen Türen.
Gerlinde und Eberhard hatten kein Ziel. Sie konnten niemanden besuchen, hatten sie doch allen erklärt, dass sie auf keinen Fall Weihnachten feiern wollten. Sie hatten auch kein weihnachtliches Zimmer, das sie zuhause erwartete. Gerlinde wurde immer kleinlauter und schweigsamer. Eberhard legte seinen Arm um ihre Schultern. „Lass uns nach Hause gehen, Schatz!“ sagte er.
Zuhause angekommen hastete Eberhard in seinen Computerraum. Mit einem Gefühl bitterer Enttäuschung ließ Gerlinde sich in das Sofa fallen und sah trübe aus dem dunklen Fenster. Am besten, sie nähme eine Schlaftablette und ginge ins Bett. Der Abend war gelaufen.
Eberhard kam wieder zum Vorschein. Vorsichtig fragte er: „Schatz, könntest Du bitte einmal in mein Arbeitszimmer mitkommen?“ Gerlinde folgte ihm lustlos. Eberhard öffnete die Tür.
Gerlinde erstarrte auf der Türschwelle. Der sonst so nüchterne Computerraum war völlig verändert. Über dem Drucker lag ein Tuch mit aufgedruckten Rentieren. Von der Decke hingen mindestens hundert gläserne Schneesterne herab. Auf sämtlichen Bildschirmen flirrte ein Schriftzug mit ständig wechselnden Farben „Frohe Weihnachten“, „Bon Noel“, „Merry Christmas“. Aus dem PC-Lautsprecher erklang Bing Crosbys „White Christmas“, und auf dem Beistelltisch neben dem Arbeitsplatz stand ein winzigkleiner, nach Wald duftender, buntgeschmückter Tannenbaum mit vielen, vielen elektrischen Kerzen. Eberhard musste die ganze Pracht in den letzten Tagen ins Haus geschmuggelt haben.
Aus dem PC-Lautsprecher erklang Bing Crosbys „White Christmas“
„Oh“ hauchte Gerlinde fassungslos. Eberhard bückte sich und holte etwas unter dem Rentiertuch hervor. Etwas Kleines, in buntes Weihnachtspapier eingepacktes. Er hielt ihr sein Geschenk hin. „Fröhliche Weihnachten, mein Schatz!“ sagte er.
Mit zitternden Fingern packte Gerlinde das Geschenk aus. Es war eine Spieluhr mit einem Weihnachtsengel obendrauf, die das Lied „Oh Tannenbaum“ klimperte. Vollkommen kitschig, vollkommen überflüssig, vollkommen weihnachtlich – und Gerlinde zerschmolz fast vor Freude und Glück. Eberhard zog zwei dicke Sitzkissen unter dem Computertisch hervor, fischte eine Schale mit Spekulatius und Printen aus der Papierschublade und öffnete den Wein, den er hinter der Gardine geparkt hatte.
Es wurde ein unvergesslich schöner, romantischer, traditioneller Weihnachtsabend. Zum krönenden Abschluss durfte die Spieluhr an ihrem Bett noch einmal „Oh Tannenbaum“ spielen. Und Gerlinde sprach nie wieder davon, Weihnachten wegzusparen …
Die Autorin
Charlotte Erpenbeck hat als selbstständige Apothekerin in Haselünne im Emsland gearbeitet und ist heute Rentnerin. Sie leitet den Machandel Verlag, ist daneben Lektorin, Autorin und Cover-Gestalterin in Personalunion. Sie wohnt mit ihrer Tochter und zwei Katzen direkt neben einer alten Klosterkirche. Die Umgebung sowie die gewachsene Tradition mündlicher Überlieferung sorgen stets für einen humorvollen Ton in ihren Geschichten, die meistens in langen Nachtschichten in der Apotheke entstehen.