Von Elena Münscher
„Jo!“, brüllte sie entnervt. „Schmeiß endlich die verdammte Maschine an! Ich muss ins Krankenhaus!“
„Verdammt noch mal, Mary“, fauchte er zurück, „als ob ich was dafür kann, dass dieses blöde Balg so früh auf die Welt will. Ich bin ja noch nicht mal der Vater!“
My kniff die Augen zusammen. Dass Jo ihren vollen Namen benutzte, war ein deutliches Alarmzeichen. Er wusste verdammt genau, wie sehr sie diesen altmodischen Namen hasste. Genauso wie er seinen. Joseph. Wer nennt sein Kind heutzutage noch Joseph?
Die Weihnachtsgeschichte von Elena Münscher mit dem Titel „Unter der Brücke“ ist erstmals in der Mini-Anthologie „Drei Könige unter dem Stern“ erschienen. Inhalt: Weihnachten ist zeitlos – aber jede Zeit interpretiert sie anders. Wir alle kennen die Heiligen Drei Könige. Doch was wissen wir wirklich über sie? Dieses Büchlein erzählt Ihnen: Von der Reporterin, die drei Könige interviewen sollte. Von einem ungewöhnlichen Treffen unter einer Brücke. Von dem Bericht eines römischen Besuchers bei Herodes. Von drei reisemüden Königen in einer kalten Nacht. Vier Kurzgeschichte in einem kleinformatigen Buch (A6). Erschienen im Machandel Verlag.
„Du hast mir aber versprochen, dass du sein Papa sein willst.“
Sie hörte, dass ihre Stimme zitterte. Wenn er sie jetzt sitzen ließ … ausgerechnet jetzt …
Jo musste etwas gemerkt haben. Fast augenblicklich wurde sein Blick sanfter, sein verspannter Kiefer weicher. Er betätigte den Anlasser zum achten Mal. Endlich! Der Motor erwachte geräuschvoll zum Leben.
„Steig auf“, knurrte er.
My setzte den Helm auf und schwang sich hinter ihr. Es war fast schon ein akrobatisches Kunststück, mit einem Neun-Monate-Babybauch auf einem Bike herumzuturnen. Sie legte die Arme um seinen Rumpf, klammerte sich unwillkürlich fester, als eine neue Wehe in ihr hochschoss.
Jo knurrte erneut, sagte aber nichts. Er ließ die Maschine anrollen, behutsam für seine Verhältnisse. Der Motor jaulte auf. My spürte die Beschleunigung, hielt sich noch krampfhafter fest, weil ihr runder Bauch sie viel zu weit nach hinten drückte. Im Moment hätte sie einiges darum gegeben, wenn Jo ein Auto gehabt hätte anstelle eines Motorrades, egal, wie klapprig die Kiste gewesen wäre. Aber sie sagte nichts.
Der Weg zum Krankenhaus war nur fünf Kilometer lang, aber er erschien ihr wie eine Ewigkeit. Schon wieder eine Wehe. Sie stöhnte, während Jo ihr vom Sitz half und sie zum Empfang führte.
Der Pförtner thronte hinter seiner Glasscheibe und sah sie prüfend über den Rand seiner Nickelbrille an. „Sie sind angemel- det?“
„Nein“, stieß My hervor. „Noch nicht. Das Baby kommt zu früh.“ Sie jaulte auf, als erneut eine Wehe durch ihren Unterleib schoss.
Der Pförtner tippte auf seiner Tastatur, runzelte die Stirn, tippte weiter, sah dann mit einem geradezu missbilligenden Blick auf. „Wir sind voll“, sagte er.
„Voll? Was heißt das?“, fragte Jo.
„Voll wie: Es sind keine Betten mehr frei. Die Geburtenstation ist voll belegt.“
„Aber mein Baby kommt!“, begehrte My auf. „Hier muss doch irgendwo noch ein Bett für mich aufzutreiben sein!“
Der Blick des Pförtners wurde streng. „Sie sind vermutlich nicht privat versichert, oder? Nur auf der Privatstation hätten wir noch etwas.“
„Sehe ich aus wie jemand, der eine Privatstation bezahlen kann?“
Der Pförtner hielt es nicht für nötig, eine Antwort zu geben.
„Aber was soll ich dann tun?“
„Im Flussufer-Krankenhaus könnte noch was frei sein. Fahren sie dorthin.“
„Aber mein Baby kann jeden Moment kom-men! Die Fruchtblase ist schon geplatzt!“
„Dann fahren Sie eben noch ein bisschen schneller.“
My japste nach Luft. Sie fühlte, wie Jo seinen Arm um sie legte. „Vergiss es“, brummte er in ihr Ohr. „Der Arsch gibt uns garantiert kein Bett, selbst wenn du hier vor seinen Augen dein Kind kriegst. Lass uns lieber fahren.“
My nickte stumm.
Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, die Straßen glänzten feucht im Weihnachtslicht. Es waren kaum noch Leute unterwegs. Kunststück. Heiligabend blieb halt jeder zu Hause. Die Wehen kamen jetzt in kürzeren Abständen. My hatte zu hecheln begonnen, so wie die Hebamme in dem Geburtsvorbereitungskurs es ihr erklärt hatte. Der Schmerz ließ sich tatsächlich so besser aushalten. Dachte sie. Bis eine besonders heftige Wehe sie fast zu zerreißen schien und sie sich mit einem Aufschrei unwillkürlich so fest in Jo krallte, dass der ins Trudeln kam und die Maschine nur mit Mühe und Not noch abfangen konnte.
„Was zum …“
Jo hielt an und stieg ab. Ein Blick in ihr Gesicht genügte. „Wir schaffen es nicht mehr bis zum nächsten Krankenhaus.“ Sein Blick wanderte umher, blieb an der nahegelegenen Unterführung hängen. „Wir müssen dahin. Da ist es wenigstens trocken.“
Er schob die letzten Meter, während My sich verzweifelt am Sattel festklammerte und sich wimmernd zusammenkrümmte vor Schmerzen.
Unter der Brücke bewegte sich etwas. Kartons, Papier, Schlafsäcke. Ein graubärtiger Mann, zwei etwas jüngere, ein Schäferhund.
„Was is’n los, Mann?“
„Meine Freundin kriegt ein Kind.“
„Jetzt?“, kam die ungläubige Rückfrage. „Hier? Warum seid ihr dann nicht zum Krankenhaus gefahren?“
„Sind wir. Die waren voll. Haben uns weitergeschickt. Aber wir schaffen es nicht mehr bis zum nächsten.“
„So’n blöder Scheiß!“ Der graubärtige Typ wickelte sich aus seinem Schlafsack und schlurfte näher.
My schrie unter der nächsten Wehe auf. Der Graubärtige zuckte zusammen. Jo bockte die Maschine auf und hob My herunter. Er sah sich um. Da lagen noch ein paar Kartons. Aber als er darauf zusteuerte, zupfte der Graubärtige ihn am Ärmel. Er deutete auf seinen Schlafsack.
„Bring sie dahin. Da liegt sie nicht so kalt.“
Jetzt hatten sich auch die beiden jüngeren Männer aus ihren Schlafsäcken geschält. Einer von ihnen trottete zu einem Metallfass und begann darin herumzustochern. Dann schob er Zweige und Zeitungspapier hinein. Flammen leckten hoch. Wortlos holte er einen Topf, goss Wasser hinein und hing ihn über die Flammen. Der Hund sah erst zu ihm herüber, dann zu My. Bei jedem ihrer leisen Schreie zuckten seine Ohren nervös, und er winselte.
Mys Schreie wurden lauter. Auf der Straße über der Brücke röhrte ein Auto vorbei. Wenn jemand das hier hörte, dachte er bestimmt, hier unten würde jemand abgestochen.
„Verdammt, was soll ich jetzt machen?“ Jo sah sich ratlos um. „Hat einer von euch Ahnung von sowas?“
„Nö.“ Der Grauhaarige wirkte genauso ratlos wie Jo.
Der, der das Fass angemacht hatte, torkelte näher. Er hatte Sommersprossen auf der Nase und eine Alkoholfahne, die einen Elefanten betrunken gemacht hätte. „Hab da mal was gelesen“, nuschelte er. „Du musst deine Freundin stützen, von hinten. Und jemand anders muss unten bei ihr gucken und das Kind packen und herausziehen, sobald es sich blicken lässt.“ Er schaute Jo unsicher an. „Aber das macht normalerweise eine Hebamme. Oder ein Doktor. Und …“ er zögerte, „sie muss sich ausziehen. Untenrum, meine ich.“
„Ich zieh mich nicht vor Fremden aus, verdammt!“, begehrte My auf.
Ihr Protest wäre vermutlich wirkungsvoller gewesen, wenn er nicht im Wimmerlaut einer neuen Wehe geendet hätte. So packte Jo kurzerhand zu und zog ihr die Umstandshose herunter. Ging ganz leicht, sie hatte ohnehin einen Gummizug und keine Knöpfe.
My klappte den Mund auf – und vergaß jeden weiteren Protest, als sich bereits die nächste Wehe meldete.
Jo war einen Moment wie erstarrt. Da war Flüssigkeit. Und … war das Blut? My stieß einen Jammerlaut aus. Jo krabbelte hoch, beugte sich über sie, nahm ihr Gesicht in beide Hände und redete auf sie ein. „Das wird schon. Du schaffst das, My!“
„Idiot!“, fauchte sie zwischen zwei Wehen. „Kümmere dich lieber um das Kind! Wenn wir schon keine Hebamme hier haben …“ Sie schrie wieder auf. Ihr Schrei ging unter im Rumpeln der Straßenbahn, die jetzt die Brücke überquerte. In der Ferne hörte man eine Sirene. Dann war die Straßenbahn weg, und er hörte nur noch Mys Schreie.
Jo sah auf das Blut, schluckte, sah dann dem mit der Alkoholfahne fast flehentlich an: „Mach du das mit dem Kind!“, und kniete sich hinter My. Einen Moment wusste er nicht mehr, wo er sie anpacken sollte, dann kam die Erinnerung an das, was der Alkoholisierte gesagt hatte, und er legte beide Hände auf ihren Oberkörper und stützte ihren Rücken. Er konnte spüren, wie verspannt ihr Körper war, als er sie in die Arme schloss. Und wie sie sich aufbäumte, als die nächste Wehe sie packte. Verdammt! Das war ja schlimmer als … Jo fand keinen passenden Vergleich. Es war einfach nur schlimm.
„Ist das immer so?“, ächzte er.
Der Graubärtige grinste. „Beim nächsten Kind wird es schneller gehn. Behaupten die Weiber jedenfalls immer.“
My bäumte sich erneut auf, ihre Finger krallten sich in den Schlafsack. Wie lange brauchte so ein Kind eigentlich?
Der Mann, der vor Mys Beinen hockte, gab einen merkwürdig gurgelnden Laut von sich. Er setzte erneut an, dieses Mal verständlicher: „Da kommt was! Ich kann Haare sehen!“
Aus Mys Mund kam ein quietschender Laut, sie hielt die Luft an, presste. Jo erinnerte sich gerade noch rechtzeitig an das, was My ihm mal über den Geburtsvorbereitungskurs erzählt hatte, umschlang mit beiden Armen ihren Bauch im oberen Drittel der mächtigen Wölbung und drückte. Eine zweite Presswehe.
„Der Kopf ist schon raus!“, tönte der andere Mann begeistert. Er rutschte näher an My heran, packte zu.
Der Schrei, den My bei der nächsten Wehe ausstieß, klang wie ein Siegeschrei. Und dann hielt der Mann ein glitschiges, blutiges, schrumpeliges Etwas mit beiden Händen hoch und sah Jo unsicher fragend an. „Was mach´n we nu?“
„Ist das ein Junge oder eine Mädchen?“, wollte Jo wissen.
„Ein Junge“, gab der Mann im selben Moment zurück, in dem My wütend „Eine Decke!“ herauskeuchte und nach dem Kind griff. „Eine Decke, ihr Idioten! Mir ist kalt, und dem Kleinen mit Sicherheit auch! Hey, Jo, wenn wir nicht bald eine Decke kriegen, bist du ziemlich schnell ein gewesener Vater!“
Der Alte schlurfte zu einer großen Plastiktüte und kramte darin. Dann kam er mit etwas dunkelbraunem Zotteligen zurück. „Ist nur ein altes Schaffell“, sagte er.
Das Schaffell roch nach nassem Hund und war nicht ganz sauber. Aber das waren My und das Kind auch nicht. Dafür war es warm. Und groß genug, um My mitsamt dem Kind zuzudecken. Was jetzt? Jos Gehirn war wie leergepustet. Hilflos wanderte sein Blick über die Betonwand.
Der Alte hielt ihm ein Messer hin.
Jo kapierte nur Bahnhof. „Soll ich das Fell zerschneiden?“
„Blödsinn!“, knurrte der Alte. „Die Nabelschnur!“
Jos Gehirn kam endlich in die Gänge. „Ist das Messer sauber?“
„Was glaubste, weshalb ich Wasser heiß gemacht habe?“, nuschelte der Kerl, der immer noch zu ihren Füßen hockte. Wie auf Kommando bewegte sich jetzt erstmalig auch der dritte, holte sich das Messer und tauchte es in das blubbernde Wasser. Jo drehte derweilen das Lederband von seinem Schlüsselbund ab.
Was immer die beiden Männer dann zwischen ihren Beinen machten, My bekam es nicht mehr mit, denn der Kleine begann sich zu bewegen. Ruckte mit dem Köpfchen umher, als ob er etwas suchen würde. Aber natürlich! Mit einem Seufzer der Erleichterung verschaffte My ihm Zugang zu ihrer Brust und spürte im nächsten Moment die ersten zaghaften Saugversuche. So klein und schon so gierig wie der Vater! Sie musste grinsen.
Ein Grinsen, das übergangslos wieder in einem Schmerzlaut mündete. „Verdammt!“
Jos Kopf ruckte hoch. „Was ist los? Ich dachte immer, es tut nicht weh, wenn man die Nabelschnur durchschneidet?“
„Tut‘s auch nicht, du Idiot. Das ist nur eine Wehe:“
„Noch ein Kind?“, erklang es entsetzt von dem Betrunkenen.
„Quatsch“, knurrte My. „Ist nur die Placenta, die noch raus muss.“
Und raus kam sie. Bot, wenn My nach Jos Gesichtsfarbe urteilte, nicht gerade einen appetitlichen Anblick. Nur gut, dass der vorher noch ein Stück Karton unter ihr Gesäß geschoben hatte.
Der Hund hatte sich erhoben, schnüffelte interessiert.
„Bring das weg!“, kreischte My auf. „Ich will nicht, dass der Hund etwas von mir frisst!“
Jo begann zu würgen. Der Betrunkene griff nach dem Karton samt Auflage, brummelte: „Ist schon gut, ich mach‘s, hab schon Schlimmeres vergraben“, und torkelte in Richtung Blumenkübel an der Promenade. Als er zurückkam, waren seine Hände leer. Der Hund winselte enttäuscht. Kroch dann nahe an My heran, schnüffelte kurz nach dem Kind und kuschelte sich dann eng an sie. My zog die Beine an den Bauch, rollte sich mitsamt dem Kind zur Seite, der neuen Wärmequelle zu, und schlief erschöpft ein.
Sie wachte wieder auf, weil ihr warm und kalt zugleich war. Jo kniete über ihr und dem Kind, hatte das Schaffell zur Seite gezogen und wusch erst den Kleinen, dann My mit einem undefinierbar grauen Lappen ab. Kaum war er damit fertig, gab das Kind einen kleinen Quietschlaut von sich, My spürte etwas sehr Warmes auf ihrem Bauch und Jo fluchte. „Gottverdammter Mist! Wir haben keine einzige Windel hier!“
Der Schweigsame reichte ihm wortlos ein zerschlissenes Handtuch. Jo drehte es ratlos. „Und wie mache ich daraus eine Windel?“
„Ihr jungen Leute heutzutage habt aber auch keine Fantasie“, brummte der Alte. „Nimm den Lappen und mach erst mal die Bescherung wieder sauber. Danach zeig ich dir, wie‘s geht.“
Mit angeekeltem Gesicht machte Jo sich wieder an die Arbeit. Als My und der Kleine erneut einigermaßen präsentabel waren, steckte der Alte das zusammengefaltete Handtuch zwischen den Beinen den Kleinen durch und machte dann links und rechts aus den Enden einen Knoten. „Das dürfte halten, bis ihr wieder nach Hause kommt.“ Sein Blick wanderte zu der Maschine. „Ich glaub aber nicht, dass deine Süße in dem Zustand auf dem Bock sitzen kann. Du solltest dich wohl besser um einen Wagen kümmern.“
Jo nickte, stemmte sich hoch, sichtlich froh, aus der Nähe von Schmutzwasser und Putzlappen zu entkommen, stolperte zu seinem Bike und jagte mit aufdröhnendem Motor davon.
Wird auch Zeit, dachte My nur.
„Hat nich mal Tschüss gesacht!“ Der Betrunkene starrte ihm fassungslos hinterher.
„Mach dir nichts draus. Frischgebackene Väter sind nicht zurechnungsfähig“, sagte der Alte lächelnd. „Weiß ich aus eigener Erfahrung.“
Der Schweigsame reichte My, die wieder warm unter dem Fell verstaut war, eine Blechtasse, aus der es aromatisch duftete. Sehr aromatisch. Vielleicht hatten sich ein paar Hanfblätter hineinverirrt. My trank erleichtert. Das Kind an der Brust, die Nase des Hundes an ihrem Schlüsselbein, lauschte sie der leisen Stimme es Alten, der angefangen hatte, etwas in einer fremden Sprache zu erzählen, und driftete wieder in den Schlaf.
Jo kam mit Harry und seinem knatternden alten Ford zurück. Wie immer voll geladen mit irgendwelchem Kram. My erinnerte sich, dass sie Harry immer als rollenden Müllsammler bezeichnet hatte.
Aber dieses Mal war es kein Müll. Dieses Mal waren es Tüten mit Kleidungsstücken, Kartons mit Lebensmitteln, und zwei Flaschen Rum. Und ein sauberer Schlafsack. Der, den Jo zu seinem letzten Trecking-Urlaub mitgenommen hatte. Himalaya-fest, hatte es bei Amazon geheißen.
„Ihr war Klasse, Männer“, sagte er zu den dreien. „Wenn ihr nicht gewesen wärt, hätte das verdammt schiefgehen können. Verratet ihr mir eure Namen?“
„Auf keinen Fall!“, fauchte der Schweigsame los. „Damit du uns die Polizei auf den Hals hetzt?“
„Blödsinn“, sagte Jo. Es klang fast liebevoll. „Ich will nur meinem Sohn eure Namen geben. Irgendwie muss er ja heißen. Und wenn ihr ihn schon mit auf die Welt gebracht hab, dann betrachte ich euch mal als so eine Art Paten.“
Der Alte lachte glucksend auf. „Ein Pate! Der unter Brücken lebt! Aber warum nicht. Hab schon beklopptere Sachen erlebt. Ich heiße Carl, Carl mit C, der Saufkopp da, der sich nicht mal mehr an seinen eigenen Namen erinnert, heißt Malte, und der angepisste, paranoide Kerl dahinten ist Berni.“
„Behalt‘ ich“, sagte Jo grinsend. Pellte dann das Schaffell behutsam zur Seite, rollte eine mitgebrachte Decke um My und den Kleinen und hob sie so behutsam, wie My ihn noch nie erlebt hatte, auf die Rückbank des Fords.
Kurz darauf ruckelte der knatternde Ford My wieder in den Schlaf.
Der Alte sah dem Wagen nach. Was für eine merkwürdige Nacht. Und da hatte er gedacht, er hätte schon alles erlebt in seinem Leben und ihn könnte nichts mehr erschüttern. Aber dieses Kind … Einfach so unter einer Brücke geboren. Wo gab es denn so was? Heutzutage gingen doch alle ins Krankenhaus. Und überhaupt … Aber süß hatten sie ausgesehen, die drei. Hatten ihn an Zeiten erinnert, wo auch er noch eine Familie gehabt hatte. Ob er vielleicht doch mal versuchen sollte, sie wiederzufinden?
Der Besoffene starrte in das Feuerfass. Die Flammen tanzten. Ausnahmsweise hatte er mal nicht das Bedürfnis, zu trinken. Trotz der beiden Rumflaschen, die in Reichweite standen. Alkohol ließ ihn vergessen. Aber das, was heute passiert war … Wie dieser kleine Mensch da in die Welt und in seine Hände geglitscht war, so klein und doch schon so lebendig und so voller Lebenswillen … nein, das wollte er nicht vergessen. Jedenfalls nicht heute.
Der Schweigsame trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Ob er jetzt weglaufen musste? Aber der alte Carl hatte den beiden vertraut. Carl wusste immer, welche Menschen halfen und von welchen man besser wegblieb.
Der Schweigsame sah zu seinem Hund herüber. Der Hund hatte den beiden auch vertraut. Bei Polizei reagierte der anders.
„Hund!“, sagte er leise. Der Hund sah auf und wedelte mit dem Schwanz.
Der Hund senkte die Schnauze noch einmal in das mottenzerfressene Fell, nahm den Duft auf, der noch immer darin hing, betörend und furchterregend zugleich. Wie konnte es sein, dass sein Herrchen zu dumm gewesen war, es zu bemerken? Er und auch die beiden anderen Menschen. Das hier … Er senkte seine Nase noch einmal in den süßen Duft, hörte seinen Herrn erneut rufen, ein wenig schärfer dieses Mal, hob mit Bedauern den Kopf und trottete zu ihm herüber, nicht ohne noch einen langen, sehnsüchtigen Blick zurückzuwerfen.
Dieses Kind war etwas Besonderes. Etwas, das jenen Schmetterlingen ähnelte, deren Flügelschlag die Welt verändern konnte. Ein Schmetterling in Menschenform. Und der Beginn von etwas ganz Neuen.
Die Gedanken des Hundes, die im Bereich dieses süßen Duftes von ungewohnter Klarheit gewesen waren, begannen wieder zu verwischen, das Geschehene zu vergessen. Hier war sein Herr, zu dem gehörte er. Aber ein winziger Rest jener Klarheit in ihm wusste, dass er dem Kind bedingungslos gefolgt wäre, hätte es auch nur mit dem kleinen Finger nach ihm gewunken.